Natur statt Supernanny oder Medienkonsum
Die meisten von uns sind schon einmal auf einen Baum geklettert und haben sich in seiner Krone versteckt. Wir kennen das Sicherheitsgefühl, das sich einstellt, wenn man oben ist, und unsichtbar für alle anderen einen komfortablen Sitz gefunden hat.
Auf Bäume klettern ist eine menschliche Urerfahrung; sie hat uns Hunderttausende von Jahren vor den meisten, uns gefährlichen Tieren in Sicherheit gebracht. Kinder klettern gerne auf Bäume, genauer gesagt: sie kletterten. Moderne Kinder tun das immer seltener.
“Wozu auch?”, werden die meisten Eltern fragen, »auf Bäume klettern ist gefährlich«. Schließlich kann man ja herunterfallen. Weit unbedenklicher sind da der Fernsehsessel oder der Computerstuhl. Darauf holen sich die Kleinen schlimmstenfalls eine verkümmerte Rückenmuskulatur; aber die können sie ja in einem Fitnessstudio wieder aufbauen.
Was Eltern übersehen: Die psychische und physische Herausforderung für ihre Kleinen entfällt, ebenso die Naturnähe, die Selbstbestätigung und das daraus resultierende Selbstbewusstsein, das Abarbeiten schlummernder Energien. Spielen in freier Natur statt im Kinderzimmer oder auf dem Spielplatz regt die kindliche Kreativität an, erfordert oft die Zusammenarbeit mit anderen Kindern und den Einsatz aller Sinne, schult die Aufmerksamkeit auch für Gefahren und gewährt dem Kind Autonomie, sprich:
Ruhe vor den Erwachsenen. Spielen in freier Natur treibt ohne »Rotbäckchen« das Blut in die Wangen, macht Spaß.
Und was, wenn ein solches Spiel gestrichen ist, gar nicht mehr stattfindet?
Dann, sagt der amerikanische Journalist Robert Louv, entsteht die Gefahr einer Nature Deficit Disorder, des Natur-Defizit-Syndroms, die Chronifizierung eines allen Eltern und Erziehern bekannten Phänomens.
Es stellt sich immer dann ein, wenn Kinder längere Zeit in vier Wände gesperrt wurden: Freundliche, ausgeglichene und phantasievolle Kinder sind auf einmal wie ausgewechselt und verwandeln sich in unerträgliche Nervensägen. Aber nach einer Weile, wenn sie draußen toben, am Bach Wasser stauen oder sich im Freien mit Tieren beschäftigen durften, sind sie wieder die Alten.
Nur: Kinder, die dauernd indoors gehalten werden – also die meisten Stadtkinder in Deutschland – wollen irgendwann nicht mehr raus. Diese »Stubenkinder« bezahlen die permanente Naturentfremdung nicht nur mit Übergewicht, sondern auch mit neurologischen Störungen: Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsstörungen, Überaktivität und Gewaltbereitschaft – zusammengefasst im Natur-Defizit-Syndrom. Kinder, die dauernd indoors gehalten werden – also die meisten Stadtkinder in Deutschland – wollen irgendwann nicht mehr raus.
Wenn das Band durchschnitten wird
Louv geht von der so genannten Biophilie aus, der Annahme, dass Menschen eine angeborene Freude an der Natur haben und gerne mit anderen Lebewesen der Natur in Verbindung treten. Eltern können das von ihren Kindern in aller Regel bestätigen.
Die von E.O. Wilson begründete Ecopsychologie konnte sogar zeigen, dass schon die Bilder von savannenartigen Landschaften genügen, um starke positive körperliche, neurologische Reaktionen auszulösen. Louv vermutet, dass die menschliche Psyche über ein ökologisches Unterbewusstsein verfügt, ein Band, das Mensch und Natur, Mensch und Evolution untrennbar verbindet.
Die Annahme liegt nahe, schließlich dürfte es in der Evolutionsgeschichte keine Beziehung geben, die fundamentaler ist als unsere Beziehung zur Natur. Wird dieses Band durch moderne Lebensweisen durchtrennt, kommt es zu psychischen Störungen. Doch mehr als das: So wie ein gestörter Kontakt zur Mutter zur sozialen Bindungsunfähigkeit führt, kommt es ohne genügende Nähe zu Mutter Erde zu einer ökologischen Bindungsunfähigkeit.
Das Schicksal der Erde ist so aufgewachsenen Kindern ganz einfach egal. Woher, so fragt Louv verzweifelt, kommen dann die Umweltaktivisten der nächsten Generationen?